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„Es gibt keine Religionsfreiheit“
Interview mit Gerhard Duncker
Wie steht es um die Glaubensfreiheit in der Türkei? Ist das Land am Bosporus überhaupt ein laizistischer Staat? Können Christen dort ihre Religion ungestört leben? Cicero hat den langjährigen Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Istanbul befragt.
Wie ist es um die Glaubensfreiheit in der Türkei bestellt?
Die christlichen Kirchen haben in der Türkei damit zu kämpfen, dass es zwar Glaubensfreiheit gibt, aber keine Religionsfreiheit. Als Individuum hat man das Recht zu glauben, was immer man mag. Man darf sich aber nicht zu einer Glaubensgemeinschaft zusammentun. Die Kirchen sind darüber hinaus auch keine Körperschaften, wie wir es kennen. Das führt dazu, dass die Kirchen keinerlei Rechtsstatus haben. Sie können keine Immobilien kaufen und nicht bauen. Sie können als Institution keine Mitarbeiter einstellen und keine aus dem Ausland holen.
Die türkische Regierung argumentiert, beispielsweise in Istanbul gebe es rund 60000 Christen und rund 200 Kirchen. Das reiche doch.
Das ist nur statistisch richtig. Die meisten Kirchen sind griechisch-orthodoxe Kirchen. Die Griechen dürfen aber keine Kirche etwa an die Syrisch-Orthodoxen abgeben, die keine Kirchen in Istanbul haben. Es herrscht also völlige Bewegungsunfähigkeit.
Wie viele christliche Geistliche der einheimischen Kirchen gibt es in der Türkei und wie sieht es mit ihrem Nachwuchs aus?
Es gibt etwa 200 Pfarrer – vom griechisch-orthodoxen über den armenischen bis zum syrisch-orthodoxen. Nachwuchs gibt es allerdings überhaupt nicht, denn seit Anfang der siebziger Jahre sind alle geistlichen Seminare und kirchlichen Hochschulen geschlossen. Wenn Geistliche aus dem Ausland kommen, wie die Pfarrer der katholischen oder evangelischen Gemeinden, so dürfen diese lediglich als Angehörige der Botschaften ihrer Länder einreisen. Die einheimischen Kirchen aber können aus dem Ausland keine Geistlichen rekrutieren. Das wird dazu führen, dass es irgendwann überhaupt keine Pfarrer mehr in der Türkei gibt.
Der türkische Ministerpräsident argumentiert, dass eine Reihe neuer Gesetze all diese Probleme ausräumen soll…
Diese Gesetze haben ihre Tücken. Eines besagt zwar, dass die Kirchen künftig bauen dürfen. Voraussetzung ist aber, dass alle Kirchen ihren aktuellen Grundbesitz auflisten. Davor schrecken viele zurück, weil sie Angst haben, Enteignungslisten vorzubereiten. In den vergangenen Jahrzehnten ist das eine oder andere Grundstück schon einmal über Strohmänner gekauft worden in der Hoffnung, es irgendwann nutzen zu können. Darüber hinaus müssen die Anträge zum Bau einer Kirche beim Außenministerium gestellt werden…
Wieso das?
Dahinter steht die Einstellung, dass Christen eigentlich Ausländer sind. Das Bewusstsein, dass es auch türkische Staatsbürger gibt, die keine Muslime sind, ist extrem unterentwickelt. Überhaupt ist es ja ein wesentliches Problem der Kirchen in der Türkei, dass sie nationale Minderheiten vertreten. Christen sind Griechen, Armenier oder Syrisch-Orthodoxe.
Das sind auch Sprach-Minderheiten. Eines der neuen Gesetze erlaubt muttersprachlichen Unterricht, sofern die Lehrer staatlich anerkannt sind. Es gibt aber keine staatlich anerkannten christlichen Lehrer. Die müssten ausgebildet werden, aber die Ausbildungsstätten sind geschlossen. Die Gesetze fangen also viel versprechend an, enden aber nicht gut. Und bei der Umsetzung bewegt sich wenig.
Die Türkei betont stets, sie sei ein laizistischer Staat.
Der Laizismus war doch nie Wirklichkeit. Die Türkei hat ein Amt für Religiöse Angelegenheiten mit rund 90000 Mitarbeitern. Dazu gehören alle Imame, übrigens auch die in Deutschland. Sie alle sind türkische Staatsbeamte. Ich kann einem Staat mit einem solchen Amt nicht abnehmen, er halte es mit einer strikten Trennung von Staat und Religion.
Worin besteht die Hauptaufgabe dieses Amtes?
In der Kontrolle der muslimischen Mehrheit, der Sunniten. Die Religion hat eine extrem prägende Kraft in der Türkei, und es gibt stets die Sorge, es könnten sich unkontrollierbare Strömungen entwickeln. Das Amt kümmert sich überhaupt nicht um die immerhin zwölf Millionen Alewiten – von den Christen und Juden ganz zu schweigen sondern nur um die Sunniten. Dass man dies für notwendig hält, ist ein bislang nicht aufgearbeitetes Problem der türkischen Gesellschaft und zeigt, man traut der eigenen Bevölkerung nicht richtig über den Weg.
Also bringt die Türkei eine wesentliche Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft nicht mit?
Wenn man den aktuellen Zustand betrachtet, ist das so. Das hat die EKD unlängst sowohl gegenüber Erweiterungskommissar Verheugen wie auch gegenüber Außenminister Fischer nochmals deutlich gemacht. Wir sehen ein Bemühen bei Ministerpräsident Erdogan, diese Probleme anzugehen. Aber die Situation, so wie sie sich jetzt darstellt, darf nicht in Europa aufgehen.
Eine Mitgliedschaft in der EU wird auch immer als wesentliche Voraussetzung für die Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei angeführt, auch als Garant dafür, dass das Militär sich nicht in die Politik einmischt.
Die EU ist nicht dazu da, innenpolitische Probleme eines Landes zu lösen. Das muss die Türkei erst einmal selbst bewerkstelligen. Darüber hinaus muss sie allen Bürgern ihres Landes die Menschenrechte zubilligen. Und dazu gehört unter anderem, dass Minderheiten das Recht erhalten, ihre Kinder in ihrer Kultur zu unterrichten.
Existiert in der türkischen Gesellschaft Sensibilität für diese Forderungen, für den Wandel hin zu einer weltoffenen Demokratie?
Das muss man differenziert sehen. In Istanbul oder Izmir ist man da weiter als im Grenzgebiet zu Syrien, wo die Frauen noch das Wasser aus Brunnen schöpfen. Es gibt viele gebildete Türken, die in ihrem Denken und in ihren Auffassungen Europa pur vertreten. Aber die Türkei ist nun einmal nicht homogen. Es gibt ein starkes Gefälle zwischen der West- und der Ost-Türkei.
Ist eine derart stark islamisch geprägte Gesellschaft wie die türkische überhaupt mit der EU kompatibel?
Es kommt sehr stark darauf an, mit welchem Islam wir es zu tun haben. Schwierig wird es, wenn die islamischen Strömungen dominieren, die die bürgerliche Gesellschaft und Religionsgemeinschaft in eins setzen wollen.
Grundsätzlich glaube ich aber, dass verschiedene Religionen durchaus in einem demokratischen Gemeinwesen zusammenleben können. Allerdings verstehe ich auch die Ängste der Menschen hier. Schließlich ist die Türkei kein kleines Land wie Luxemburg. Wenn sie kommt, kommt sie mit 70 Millionen Einwohnern in die EU.
Die Fragen stellte Martina Fietz